- Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: Alte neue Unübersichtlichkeit
- Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts: Alte neue UnübersichtlichkeitRatlosigkeit steht am Anfang jedes Versuchs, die Musikvielfalt eines Zeitraums zu beschreiben, welcher in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht. »Wüssten wir sogar, worin die verschiedenen Erscheinungen der »neuen Musik« wurzeln, so wissen wir doch nicht, wohin sie führen. Daraus sehen wir, dass sie am äußersten Rande der Geschichte stehen.« Was hier zum Beschluss einer viel gerühmten »Musikgeschichte im Überblick« kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs resigniert festgestellt wurde, gilt unvermindert, wenn nicht gar in gesteigertem Maße, gut 50 Jahre später am Ende des Jahrhunderts. Denn kurz vor der Jahrtausendwende erscheint die klare Geometrie der Epoche des Kalten Krieges einer neuen weltweiten Unübersichtlichkeit gewichen.Die Rückkehr zum großen Durcheinander und zu einer gesteigerten Unübersichtlichkeit in allen Bereichen lässt erahnen, dass die einfachen Weltbilder wohl eine unnatürliche Ausnahme waren. Die gegenwärtige Welt erweist sich als derart vielgestaltig und komplex, dass konkurrenzfrei durchhaltbare Beschreibungen genau besehen nicht mehr möglich sind; die gewohnten europäischen Geschichtsbilder scheinen genauso ausgedient zu haben wie hierarchische Hyperstrukturen des Denkens. Nachdem 1989 das demokratische System westlichen Zuschnitts den Osten vereinnahmt hatte, prophezeite Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte«, das Ende der Ideologien und eine heranbrechende kalte Zeit, welcher die multikulturelle, informationstechnisch globalisierte und vom Prinzip postmoderner Pluralität angetriebene Gesellschaft entgegensteuere. So kalt einem heute manchmal auch zumute sein mag, so wenig ist jedoch ein tatsächliches Ende von ideologischem Denken und ein Ende der Geschichte spürbar. Doch erst aus einem späteren Rückblick wird einmal die Leistungsfähigkeit oder Begrenztheit dieser und anderer wagemutiger Prognosen beurteilt werden können.Auch die Geschichtsschreibung befindet sich in einem Zustand gesteigerter Beunruhigung: Wie steht es um die Vergegenwärtigung vergangener Zeiten als Medium kultureller Orientierung? Welchen Voraussetzungen des Denkens und welchen kulturellen Strategien sind heutige konkurrierende Geschichtsbilder verpflichtet? Welche Erinnerungen an die Musik des vergangenen 20. Jahrhunderts und welche Kommunikationsformen stellen heute für uns Werte dar, die über empirische Richtigkeit hinausgehen? Welche Geschichtsbilder also bevorzugen wir, welche treten in Konkurrenz zueinander, die das Erzählenswerte und das Darstellungswürdige auswählen, ordnen und abgrenzen? Was bedeutet es, Musikgeschichten des 20. Jahrhunderts an den Kategorien des Fortschritts und der Neuheit auszurichten, was verspricht umgekehrt das Modell der weitgesteckten bloßen »Vorgeschichte« einer wie auch immer gefassten Postmoderne? Welchen Interessen unterwerfen und verschreiben sich Musikgeschichten, wenn sie eine kontinuierliche Geschichte kompositorischer Problemlösungen erzählen und sich dabei ganz selbstverständlich auf die artifizielle Neue Musik beschränken?In Fragen wie diesen wird deutlich, wie grundlegend die jeweiligen Annahmen über den Verlauf von Geschichte auch für die Musikgeschichtsschreibung sind. Immanuel Kant hatte noch von drei gleichwertigen Schlussfolgerungen gesprochen, die aus dem Studium der Geschichte zu ziehen seien: die menschliche Spezies befinde sich in stetiger Entwicklung, sie befinde sich in kontinuerlichem Rückgang oder sie bleibe auf derselben Stufe stehen. In Musikgeschichtsdarstellungen des 20. Jahrhunderts aber wird die Komplexität des Geschichtsverlaufs gern auf »zentrale« Erscheinungen und Tendenzen des Materials reduziert: »wichtigste« Komponisten der Neuen Musik, der »Gänsemarsch« der kompositorisch-technischen Neuerungen, Konzentration auf den deutschen Sprachraum, fraglose Ausgrenzung all dessen, was nicht zum »Zentralen« passt, von der Operette bis zum Techno.Weniger einfache Modelle für die Veranschaulichung von Geschichtsverläufen sind Partituren: Ereignisreichere Strecken wechseln auch dort mit ereignisärmeren, simultane Vorgänge laufen in verschiedenem Tempo und Rhythmus parallel. Allerdings enthält das zeitliche Nacheinander von Geschichtsverläufen keine Unterbrechungen wie bei musikalischen Einzelsätzen und Abschnitten, auch Beginn und Abschluss sind selten so eindeutig wie bei Partituren. Nacheinander, Gegeneinander und Miteinander stehen in geschichtlichen Prozessen in produktivem Spannungsverhältnis. Der Fortschrittsgedanke, seit dem 19. Jahrhundert zur »letzten Religion des Gebildeten« geworden, hat sich bis heute als fester Bestandteil des Weltverständnisses auch zahlreicher Musikgeschichtsdarstellungen erhalten: ein Konzept von Musikgeschichte als rastlose, fortschreitende, in sich steigernde Kontinuität. Wobei Walter Benjamin diese Vorstellung eines kontinuierlichen Verlaufs von Geschichte im metaphorischen Bild vom rückwärts gewandten Engel des Fortschritts kritisierte.Dass Musik neu sein muss, um »gültig« zu sein und um in Geschichtsdarstellungen Aufnahme zu finden, ist vielfach Kriterium für die Auswahl historischer Dokumente. Der Wert der Gültigkeit - bei dem zu fragen wäre, für wen und mit welchen Interessen - wird dabei mit dem Neuen derart gekoppelt, dass Neuheit hinreichende Voraussetzung für Gültigkeit ist. Und damit kann das Neue im Vergleich mit dem Vorangegangenen oder dem zeitgleich weniger Neuen als besser beurteilt werden.Allen unterschiedlichen Weisen, Musikgeschichte zu erzählen, ist eines gemeinsam: Sie basieren allesamt auf musikgeschichtlichen Sätzen und ihren Verknüpfungen. In der Struktur dieser Sätze werden die ausgewählten Ereignisse und Tatsachen in einen erzählbaren Zusammenhang organisiert, mit Anfang, Mitte und Ende. Dabei werden, formal betrachtet, mindestens zwei zeitlich verschiedene Ereignisse in Bezug zueinander gesetzt. Geschichtliche und auch musikgeschichtliche Sätze aber können nicht umhin, andere Ereignisse innerhalb eines umfassten Zeitraums zu überspringen oder genauso andere wesentliche Merkmale stillschweigend auszublenden.»Die Verordnung, die es dem Rundfunk verwehrt, »Negerjazz« zu übertragen, hat vielleicht einen neuen Rechtszustand geschaffen, - künstlerisch aber nur durchs drastische Verdikt bestätigt, was sachlich längst entschieden ist: das Ende der Jazzmusik selber.« Abgesehen davon, dass Theodor W. Adorno mit dem zweiten Teil dieser Äußerung von 1933 unrecht behalten sollte: Die Abwertung des kulturell Anderen und die Hierarchisierung von hoher und niederer Kultur gehören zu den verbreiteten ethnozentristischen Denkmustern im Umgang mit Vergangenheit. Auf das eigene, kulturell Vertraute fixiert, wird das »Andere« ignoriert oder gar abgelehnt. Welche stillschweigenden Voraussetzungen haben es selbstverständlich werden lassen, die Musikgeschichte der innovativen Musik der Sechzigerjahre zu schreiben, ohne auch nur ein Wort über die zeitgleichen Umwälzungen im Bereich der populären Musik, von den Beatles bis zu Pink Floyd und anderen, zu verlieren? Welche Mechanismen lassen bis in die Gegenwart hinein Bedürfnisse entstehen, wie beispielsweise nach der Unterscheidung von »guter« Darmstädter Musik und einem angeblich »blinden Subjektivismus« anderer, ausgegrenzter Werke?Offensichtlich ist die Zeit vorbei, als - wenigstens für eine gewisse Frist - alternativenfreie Identitäten durch Geschichten hergestellt werden konnten; auch die Vorstellung eines allwissenden Erzählers ist der ständigen Aufdeckung und gleichzeitigen Entstehung neuer blinder Flecke gewichen. Musikgeschichte produziert immer wieder eine neue Realität, die anders aussieht, je nachdem, wie sie beobachtet wird. Dabei steigert die anwachsende Vielfältigkeit der Perspektiven in hohem Maße die Komplexität. Rasche und sichere Orientierung wird dadurch immer schwieriger, Toleranz dem Fremden und Anderen gegenüber aber auch immer notwendiger.Es sind Geschichtsbilder zu entwerfen von der Ambivalenz des Weges der Musik in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit durch die vergangenen 100 Jahre. Dieser Weg beschreibt weder eine lineare Fortschrittsgeschichte noch dramatisiert er eine aussichtslose Verlustgeschichte. Er thematisiert vielmehr die Janusköpfigkeit aus Fortschritt und Entfremdung, aus Unterdrückung und der Hoffnung auf Lebenschancen.Prof. Dr. Hartmut MöllerBartosch, Günter: Das ist Musical! Eine Kunstform erobert die Welt. Bottrop u. a. 1997.Berendt, Joachim Ernst: Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in die achtziger Jahre, bearbeitet von Günther Huesmann. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 71997.Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber1996.Fordham, John: Das große Buch vom Jazz. Musiker, Instrumente, Geschichte, Aufnahmen. Aus dem Englischen. Neuausgabe München 1998.That's Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Klaus Wolbert. Neuausgabe Darmstadt u. a.1997.Vogt, Hans: Neue Musik seit 1945, bearbeitet von Maja Bard u. a. Stuttgart 31982.Webern, Anton von: Der Weg zur neuen Musik, herausgegeben von Willi Reich. Neuausgabe Wien 1994.
Universal-Lexikon. 2012.